Der erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater Romuald Brunner sprach in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs von einer „erheblich gewachsenen Problematik“. Expertenhilfe werde, wenn überhaupt, im Durchschnitt erst nach etwa neun bis 14 Monaten in Anspruch genommen. „Zu spät“, meint Brunner.
Selbstverletzung und Suizidalität
Zu unterscheiden ist zwischen direkter Selbstschädigung wie Ritzen, Stechen, Haare ausreißen, Schneiden oder Wunden aufreißen, und indirekter Selbstverletzung, z. B. Rasen und „Koma-Trinken“. Die Verhaltensweisen hätten nicht zwangsläufig einen dramatischen Verlauf. Gerade im Schulumfeld würden Nachahmung und Ansteckung eine große Rolle spielen. Dennoch sei selbstverletzendes Verhalten mit einem erhöhten suizidalen Risiko verbunden.
Erleben von Entfremdung
Im klinischen Bereich würde z. B. Ritzen selten ohne andere Problematik, wie eine Depression, beobachtet. Etwa die Hälfte aller psychischen Erkrankungen beginnt um das 14. Lebensjahr, Angst- und Impulskontrollstörungen nehmen schon mit elf Jahren ihren Anfang. Die Jugendlichen würden eine extreme innere Anspannung spüren und über mangelnde Fähigkeiten zur Selbstberuhigung verfügen.
Auch Entfremdungserleben und Wahrnehmungsstörungen spielten eine Rolle. So erklärte zum Beispiel ein Mädchen, dass ihr das eigene Gesicht im Spiegel ganz fremd vorkomme. Durch Schneiden oder Ritzen könne nach Angaben der Jugendlichen eine Entlastung erreicht werden, um Gefühle von Taubheit und Entfremdung, Einsamkeit und Leere, aber auch Wut und Verzweiflung für kurze Zeit zu beenden.
Warum?
Brunner schnitt auch die Frage nach dem Warum an. Viele soziale Faktoren, u. a. Verlusterlebnisse, Traumatisierung, Mobbingerfahrungen, sexueller Missbrauch oder fehlende soziale Unterstützung, würden in diesem Zusammenhang genannt. Es ließen sich jedoch keine spezifischen sozialen Faktoren als Ursache für selbstverletzendes Verhalten festmachen. Allen Jugendlichen, die selbstschädigendes Verhalten zeigen, ist jedoch gemein, dass sie nur schwer Konflikte aushalten könnten.
Warnsignale
„Wir wissen noch viel zu wenig, was diesen Jugendlichen helfen kann“, stellte Brunner fest und nannte Warnsignale: Heimlichtuerei zum Beispiel, wenn Jugendliche es gar nicht mehr mögen würden, dass die Eltern nachhaken, häufige und nicht erklärbare Schnittwunden, Vermeiden von Umziehen beim Sport, hohe Impulsivität, unangemessene Kleidung, z. B. langärmlige Shirts beim Sport bei hohen Temperaturen, oder das „Horten“ und Verstecken von Rasierklingen.
Was Eltern tun können
„Eltern sollten Jugendliche auf jeden Fall ansprechen – und das so offen und so früh wie möglich“, erklärte Brunner. „Sie sollten deutlich erkennbar machen, wie besorgt sie sind, auch wenn der Jugendliche das Gespräch verweigert.“ Hauptziel sei immer, eine Bereitschaft zu erwirken, Hilfe anzunehmen. Generell sollte nicht mit „Panik, Schock und Ablehnung“ reagiert werden, sondern mit Anteilnahme ohne zu dramatisieren und zu urteilen. Dies gelte auch für Lehrpersonen, die mit dieser Problematik oft sehr allein gelassen würden.
„Familie nicht schuldig sprechen“
Vor einer Therapie sei in jedem Fall eine „gute Diagnostik“ wichtig, um eventuelle begleitende psychische Störungen und die Notwendigkeit einer stationären Behandlung abzuklären. Der erfahrene Experte rät aber nicht zu einer „verordneten psychiatrischen Familienanamnese“. „Ich halte nichts davon, Familien zu zwingen, über eigene Probleme zu berichten – außer bei Suizidalität.“
Mit Kurzzeittherapie erfolgreich
Brunner berichtete von einem erfolgreichen Angebot am Universitätsklinikum Heidelberg, wo eine einmonatige Kurzzeittherapie bei selbstschädigendem und riskantem Verhalten im Jugendalter angeboten wird. „Alle Jugendlichen, die uns aufsuchen, bekommen innerhalb von vier Wochen einen Therapieplatz.“
Der Fachmann äußerte Kritik an den insgesamt zu langen Wartezeiten für einen Termin zu einer Abklärung bzw. Behandlung. Ein Rückgang von Selbstverletzung und riskantem Verhalten könne auch erreicht werden, „wenn Jugendliche, die mit einer Selbstverletzung ins Krankenhaus kommen, für 24 Stunden dabehalten werden müssen“. Dies würde in anderen Ländern mit gutem Ergebnis praktiziert.
(Red.)
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