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Älter als die Republik: Adele Gliera aus Vorarlberg erinnert sich

Adele Gliera ist älter als die Republik.
Adele Gliera ist älter als die Republik. ©APA
"Es kommt mir gar nicht vor, als wär ich so alt", sagt Adele Gliera. Geboren wurde die rüstige Seniorin am 8. Oktober 1917 in einem kleinen Dorf bei Oberhausen im deutschen Ruhrgebiet, wuchs im schwäbischen Sigmaringen auf und lebt seit 1939 in Vorarlberg. Die Wirren des 20. Jahrhunderts haben ihr Leben deutlich beeinflusst, auch wenn sie sich, wie sie beteuerte, nie für Politik interessierte.

Glieras erste Erinnerungen an die politischen Gegebenheiten gehen zurück auf die französische Besatzung in den 1920er-Jahren im Ruhrgebiet. “Die haben da ganz schön gehaust”, das habe sie aus den Gesprächen der Eltern mitbekommen. “Viele Leute sind erschossen worden”, gesehen habe sie so etwas aber nie. Ab 18 Uhr herrschte Ausgangssperre, “und wehe, wenn sich danach ein Vorhang bewegt hat. Die sind alle aus dem Haus geholt worden.” Aus der französischen Besatzungszeit zog die damals etwa Fünfjährige aber auch Positives: “Ich hab Französisch fast besser gekonnt als Deutsch”, lacht Gliera im Gespräch mit der APA. Auf der Straße hätte sie oft mit den Kindern der Franzosen gespielt: “Meine Eltern hatten da nichts dagegen.”

Behinderte in Tötungsanstalten ermordet

Mit etwa sieben Jahren zog die Familie nach Lauchatal, einem kleinen Ort bei Sigmaringen im heutigen Baden-Württemberg, der Vater hatte eine Anstellung bei einem Stahlunternehmen bekommen. Als Erste im Dorf besuchte sie ein katholisches Mädchengymnasium, “der Schulleiter hat meinen Vater überredet”. Vom Erstarken der Nationalsozialisten bekam sie kaum etwas mit. In der Schule sei das gar kein Thema gewesen und die Eltern hätten sich als gläubige Katholiken überhaupt nicht für Politik interessiert. “Der Nationalsozialismus ist bei uns nicht so in Erscheinung getreten, weil es ja kleine Orte waren”, gibt Gliera zu bedenken.

Auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland – damals hatte sie die Schule “wegen einer Klosterschwester” bereits geschmissen, was sie heute noch bereue – hatte auf ihr Leben keinen Einfluss, beteuert die Seniorin. Sigmaringen hatte nach 1933 eine eigene Gestapodienststelle. Es gab zwar kaum jüdische Bevölkerung, doch aus der Psychiatrie der Stadt wurden 90 von 213 behinderten und psychisch kranken Menschen in die Tötungsanstalten Schloss Grafeneck und Hadamar deportiert und dort ermordet.

Ehemann am Tag der Geburt der Tochter eingezogen

Ihren Mann Anton hätte Gliera allerdings ohne die Nazis 1937 wohl nicht kennengelernt, denn der damals 24-Jährige absolvierte als österreichischer Zollbeamter in Sigmaringen einen Umschulungskurs auf reichsdeutsches Zollrecht. Nach der Hochzeit, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, zog Gliera mit ihrem Mann in seine Heimat Vorarlberg. In Brugg, einem Ortsteil der Gemeinde Höchst, bekam die junge Familie eine Wohnung in den neu gebauten Zollhäusern. Von seiner Arbeit beim Zoll in den ersten beiden Kriegsjahren habe er wenig erzählt. “Wir haben uns nie für Politik interessiert. Im Gegenteil, mein Mann hat immer gesagt, die Politik ist eine Hur'”, berichtet Gliera.

Lang währte das junge Glück nicht, denn bereits 1941 wurde Anton, der noch versucht hatte als Hundeführer dem Kriegsdienst zu entkommen, eingezogen. “Genau am Tag, als unsere Tochter Renate auf die Welt kam, hat er fort müssen”, erzählt Gliera. Das Kind habe er gar nicht mehr gesehen. “Ich bin im Spital gelegen, der Zug ist vorbeigefahren.” An die Zeit danach erinnert sich die 100-Jährige nicht gerne. “Plötzlich war ich wieder die Deutsche.” Das habe man sie deutlich spüren lassen. “Mehr als nötig hat keiner mehr mit mir geredet”, berichtet sie von ihrer Isolation. Den plötzlichen Sinneswandel der Bevölkerung führt Gliera auf Neid zurück. “Ich hatte ja eine neue Wohnung und wir waren die ersten, die ein Bad hatten”, das hätten ihnen einige nicht gegönnt.

Vom Nachbarn angezeigt

Ein besonders eifriger Nachbar zeigte die junge Mutter bei den Behörden an. “Es hieß, ich würde vor dem Haus sitzen und nichts tun”, erzählt Gliera. “Das sind genau die, die einem nachher wieder in den Hintern kriechen”, ist sie noch nach vielen Jahren verärgert. Wer genau sie anschwärzte, weiß die Seniorin nicht, eine Vermutung habe sie aber. Die Anzeige führte dazu, dass die damals Mitzwanzigerin in Heimarbeit Fischernetze knüpfen musste, 30 Meter pro Monat.

Einschüchtern ließ sich die gewitzte Frau aber nicht. Nach einer Rede des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels im Radio, in der er darauf hinwies, dass Frauen mit kleinen Kindern nicht zum Arbeitsdienst gezwungen werden dürften, schrieb Gliera kurzerhand persönlich an die Nazigröße. “Alle haben mich ausgelacht. Es hieß, jetzt spinnt sie”, amüsiert sich die 100-Jährige noch heute. Doch nach einem Monat kam eine Antwort, die die Aussage Goebbels sogar bestätigte. Gliera ging damit aufs Amt nach Bregenz und hatte vorerst ihre Ruhe. “Den Brief hatte ich noch lange, doch beim Umzug muss er verloren gegangen sein”, bedauert sie. (APA)

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